* 39 *
Die Falltür schloss sich leise über ihnen und schnappte zu. Septimus fröstelte. Unter der Hermetischen Kammer war es eiskalt – und stockdunkel. Wie gewohnt strahlte sein Drachenring sogleich in einem warmen gelben Licht.
»Du hast ein paar Sachen, die ziemlich gut sind, Sep«, sagte Beetle bewundernd. »Aber hier unten ist das hier besser.« Er klappte eine kleine Dose auf. Darin lag ein flacher Stein, der ein hellblaues Licht verströmte und die weißen Wände zum Glitzern und Funkeln brachte.
Im Glauben, sie befänden sich in einer Art Keller, schaute sich Septimus um. Doch mit Verwunderung stellte er fest, dass sie mitten in einem langen weißen Tunnel standen, dessen Enden er nicht sehen konnte.
»Hier wird der alte Foxy zuerst nachsehen«, flüsterte Beetle und schielte ängstlich zur Falltür. »Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen.« Er nahm ein großes Brett mit zwei Metallschienen auf jeder Seite von der Wand, legte es auf den weißen Boden, setzte sich darauf und grinste. »Aufsteigen, Sep.« Septimus wollte der Aufforderung nachkommen, doch ihm rutschten die Füße weg und er landete auf dem Hintern.
»Au«, stöhnte er. »Das ist ja eisglatt hier. Was ist das denn für ein Zeug, Beetle?«
»Eis«, antwortete Beetle. »Los, steig ein.«
»Eis? Aber wir haben jetzt Hochsommer. Wo sind wir hier eigentlich?«
»In den Eistunneln natürlich«, antwortete Beetle. »Was hast du denn gedacht?«
»Weiß auch nicht. In einem geheimen Raum unter der Kammer. Eistunnel? Was ist das?«
»Ich dachte, du wüsstest über die Eistunnel Bescheid. Du, als die Nummer eins unter den Lehrlingen. Mach schon, setz dich endlich.«
Auf dem Schlitten war kaum noch Platz für Septimus. Er quetschte sich hinter Beetle, da bemerkte er, dass er Wie man die dunklen Kräfte unschädlich macht auf dem Eis hatte liegen lassen. »Warte, Beetle, hier ist kein Platz mehr für Marcias Buch.«
»Dann setz dich doch einfach drauf«, erwiderte Beetle ungeduldig. »Aber Beeilung. Der alte Foxy wird jeden Moment seine spitze Nase hier hereinstecken.«
Septimus stand auf, ließ das Buch auf den Schlitten plumpsen und setzte sich darauf. Er hatte ein mulmiges Gefühl. Die Eistunnel gefielen ihm nicht. Hier unten ging ein kalter Wind, und er vernahm ein leises Wimmern und Heulen, bei dem sich ihm die Nackenhaare sträubten.
»Dann mal los«, sagte Beetle fröhlich. »Halt dich fest.« Der Schlitten schoss so schnell davon, dass Septimus fast herunterfiel, doch sie hatten noch nicht die erste Biegung erreicht, als das Zischen der Falltür den Tunnel erfüllte. Beetle riss den Schlitten herum, brachte ihn zum Stehen und klappte die Lichtbüchse zu. Septimus schob die Hand in die Tasche, um den leuchtenden Drachenring zu verbergen, und dann saßen sie reglos in der eisigen Finsternis und hielten den Atem an. Ein Lichtstrahl fiel durch die offene Falltür und schnitt in das Dunkel, und in der Luke erschien der Kopf des Obermagieschreibers. Er sah aus wie ein neumodischer Lampenschirm. Sein scharf geschnittenes Gesicht blickte nach links und nach rechts, und dann hallte seine Stimme durch den Tunnel, tiefer und eindrucksvoller, als sie in Wirklichkeit war.
»Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Partridge. Ich kann Beetle nirgends sehen. Was um alles in der Welt sollte er denn hier unten wollen? Heute ist kein Inspektionstag. Und wozu sollte er das Buch mitnehmen? Sie wollen doch nur die Schuld auf ihn abwälzen, dabei tragen Sie ganz allein die Verantwortung ...« Der Rest seiner Gardinenpredigt ging im Zischen der Falltür unter.
»Nichts wie raus hier!«, flüsterte Septimus.
Beetle klappte seine Lichtbüchse wieder auf, und der Schlitten setzte sich erneut in Bewegung.
Sie fuhren schnell, doch der kleine Schlitten nahm die weiten Kurven mit spielender Leichtigkeit. Nach ein paar Minuten drosselte Beetle das Tempo. Septimus, der sich krampfhaft an beiden Seiten festgehalten hatte, lockerte den Griff und spähte nach hinten.
»Wir brauchen nicht zu hetzen«, sagte Beetle. »Es ist bestimmt keiner hinter uns her. Es gibt nämlich nur einen Zauberschlitten, und auf dem sitzen wir.«
»Bist du sicher?«, fragte Septimus, der immer wieder nach hinten blickte.
»Klar. Der Schlitten gehört ja mir. Ich bin der Einzige, der hier unten Inspektionen vornimmt.«
»Und was inspizierst du?«, fragte Septimus, während sie eine längere Steigung hinaufzuckelten. »Und wozu?«
»Keine Ahnung, wozu. Das hat mir keiner gesagt. Ich komme einmal die Woche runter, drehe mit dem Schlitten eine flotte Runde und sehe nach, ob das Eis taut, ob es Sprünge hat oder sonst irgendwie beschädigt ist. Und ich kontrolliere, ob alle Falltüren noch versiegelt sind.«
»Wie? Es gibt noch mehr Falltüren?«
»Klar, jede Menge. Alle alten Häuser haben eine im Keller. Kopf runter und Luft anhalten – da kommt Hilda.« Septimus duckte sich gerade noch rechtzeitig, als ein dünner langer Nebelstreifen, der sich wie ein Korkenzieher durch den glitzernden Tunnel wand, unter lautem Gewimmer auf sie zukam. Das Eisgespenst hüllte den Schlitten ein, wirbelte um Beetle und Septimus herum und jagte ihnen eisige Schauer über den Rücken. Als Septimus sich noch tiefer duckte, hörte er Eis in seinen Haaren knistern. Ihm gefror der Atem in Nase und Mund und einen schrecklichen Augenblick lang glaubte er zu ersticken. Dann, auf einmal, war das Gespenst wieder fort, wand sich heulend an den Wänden entlang und setzte seine endlose Reise durch die Eistunnel fort.
»Puhl«, atmete Beetle auf und beschleunigte, als es steil abwärts ging. »Sie ist fort. Es dauert ungefähr eine Stunde, bis sie wiederkommt. So lange braucht sie normalerweise für ihre Runde. Bis dahin sind wir längst am Zaubererturm.«
»Die Eistunnel führen auch zum Zaubererturm?«, keuchte Septimus, der immer noch nach Atem rang.
»Sie führen überallhin, Sep. Sie verbinden alle alten Teile der Burg miteinander. Sie führen zum Turm, zum Palast, zu verschiedenen Geschäften in der Zaubererallee und zu den alten Häusern unten am Burggraben. Hoppla, ziemlich enge Kurve.«
»He! Nicht so schnell, Beetle. Aber wie kommt es, dass sie mitten im Sommer noch gefroren sind? Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Na ja, ich glaube, da muss vor langer, langer Zeit etwas schief gelaufen sein«, antwortete Beetle unbestimmt. »Und heute wollen alle das Eis behalten, weil keiner will, dass das, was darunter ist, zum Vorschein kommt.«
»Was ist denn darunter?«
»Keine Ahnung. Festhalten.« Beetle riss den Schlitten herum, um zwei bleichen Gestalten in zerlumpten grauen Gewändern auszuweichen. Um ein Haar wäre Septimus heruntergeschleudert worden.
»Entschuldige, Sep«, sagte Beetle, richtete den Schlitten wieder aus und setzte die Fahrt fort. »Ich fahre nicht gern durch einen Geist hindurch, schon gar nicht durch diese beiden. Die fragen mich ständig nach dem Ausgang. Es ist zum Verrücktwerden.«
Der Schlitten zuckelte weiter, und die Kufen glitten sanft über das glatte Eis. Septimus hatte sich mittlerweile an den kalten Wind und die gelegentlich auftauchenden verirrten Geister gewöhnt und begann gerade, Gefallen an der Fahrt zu finden, als Beetle den Schlitten abrupt zum Stehen brachte und die Lichtbüchse zuklappte. Vor ihnen fiel ein gelber Lichtstrahl von der Tunneldecke.
»Was ist das?«, flüsterte Septimus.
»Da hat jemand eine versiegelte Falltür geöffnet«, flüsterte Beetle zurück.
»Wer?«, fragte Septimus mit Herzklopfen.
»Das ist die Tür von Professor Van Klampff.«
»Sieh doch ...«, stieß Septimus hervor. »Da kommt jemand runter.«
Zwei Füße mit Schlittschuhen daran zappelten in der Öffnung. Das kann nur Una Brakket sein, dachte Septimus, denn der mollige Professor würde nie und nimmer durch die Falltür passen. Einen Augenblick lang baumelten die Schlittschuhe unschlüssig im Licht, dann fiel eine vertraute Gestalt herab und landete katzengleich auf dem Eis. Geduckt, als wollte sie zum Sprung ansetzen, spähte sie in den Gang.
»Wer ist da?«, rief Simon Heap etwas unsicher, denn seine Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt.
»Simon!«, entfuhr es Septimus.
»Ruft da jemand meinen Namen?«, schallte Simons Stimme unheimlich durch den Tunnel. »Wer ist da?«
»Beetle, bring uns hier weg!«, zischte Septimus aufgeregt.
Beetle wünschte sich nichts sehnlicher. Er warf den Schlitten herum und brauste in einer Eiswolke davon.
»He!«, brüllte Simon ihnen nach, als er die verhasste grüne Tracht von Marcias Lehrling erkannte. »Was machst du denn hier unten, Rotznase?«
»Er verfolgt uns, Beetle«, rief Septimus, als er sah, dass Simon, der ein ausgezeichneter Schlittschuhläufer war, Fahrt aufnahm und ihnen nachjagte.
»Wir sind schneller, Sep«, beruhigte ihn Beetle, fuhr um eine Kurve und raste mitten durch die beiden Geister hindurch, denen er eben noch ausgewichen war.
»Verzeihung ... könnten Sie uns den Weg zum Ausgang zeigen ... Ausgang zeigen ... Ausgang zeigen ... Ausgang zeigen ...?«, hallte es durch den Tunnel.
»Haben wir ihn schon abgehängt?«, schrie Beetle.
»Nein!«, schrie Septimus zurück.
»Dann festhalten!« Beetle bog scharf in einen kleineren Tunnel ab, legte eine Vollbremsung hin und sprang vom Schlitten. In Sekundenschnelle zog er den Schlitten mitsamt Septimus durch eine offene Tür im Eis und drückte sie zu. Keuchend sank er auf den eisigen Boden. »Serviceluke«, sagte er grinsend. »Er wird nichts merken.«
Septimus wälzte sich vom Schlitten auf den Boden und starrte an die Decke des kleinen, aus festem Eis gehauenen Raums. Auch die Tür bestand aus einem Eisblock, und nun, geschlossen, war nichts mehr von ihr zu sehen. Er nahm an, dass es auf der anderen Seite genauso war. »Beetle, du bist unglaublich.«
»Nicht der Rede wert. Willst du eine Brutzelstange?«
»Eine was?«
»Schmecken prima und wärmen auf. Ich habe immer welche hier für den Fall, dass mir mal richtig kalt wird.« Er zog hinter ein paar Schaufeln und einer Decke eine kleine Schachtel hervor, öffnete sie und spähte hinein. »Ich hätte verschiedene Geschmacksrichtungen anzubieten ... Banane und Schellfisch ... und ... äh ... Rote Beete. Tut mir leid, Sep, aber wie es aussieht, habe ich alle guten schon aufgegessen.«
»Zum Essen oder zum Lutschen?«
»Zum Essen. Was für eine willst du?«
»Banane bitte.«
»Du meinst Banane und Schellfisch?«
»Oh ja, gern. Tante Zelda hat immer einen prima Bananen-Schellfisch-Kuchen gebacken. Lecker.«
»Ehrlich? Wenn du magst, kannst du alle haben, Sep.«
Zehn Minuten später zog Beetle vorsichtig die Tür auf und spähte hinaus. Von Simon war nichts mehr zu sehen, nur zwei Schlittschuhspuren im Eis. Eine führte tiefer in den Tunnel hinein und eine wieder heraus, doch zu Beetles Erleichterung deutete nichts darauf hin, dass Simon stehen geblieben war und das Schlupfloch in Augenschein genommen hatte.
»Weißt du was, Sep?«, sagte Beetle. »Wir nehmen den kürzesten Weg zum Zaubererturm. Ich wollte ihn eigentlich nicht benutzen, weil es ständig bergauf und bergab geht, aber ich finde, je schneller wir hier rauskommen, desto besser. Einverstanden?«
»Aber sicher.«
Ein paar Minuten und viele Kurven später stoppte er den Schlitten und deutete auf ein Schild, das ins Eis gehauen war. Auf schwarzem Eis standen erhaben die Worte Zum Zaubererturm. Sie waren in einer altmodischen Schrift geschrieben, und ein verschnörkelter Pfeil wies in einen viel niedrigeren und schmaleren Eistunnel, der sich im Dunkeln verlor.
»So«, sagte Beetle zu Sep, »halt dich gut fest. Jetzt wird’s haarig.«
Sie bogen rechts ab in den Tunnel zum Zaubererturm. Der Schlitten verharrte einen Augenblick, als nehme er all seinen Mut zusammen, dann schien das Eis unter ihnen wegzubrechen, und sie fielen wie ein Stein in die Tiefe. Septimus war entsetzt.
»Juhuuuu!« Beetles begeisterter Ruf verhallte hinter ihnen, als der Schlitten ein beinahe senkrechtes Gefälle hinabdonnerte, unten auf dem Eis aufschlug, dann eine ebenso steile Steigung hinaufflog, vom Boden abhob und, als es wieder flach wurde, mit lautem Kreischen landete. Septimus war gerade wieder zu Atem gekommen, als Beetle in eine scharfe Rechtskurve und gleich darauf in eine noch schärfere Linkskurve fuhr. Und hier trennten sich Septimus und der Schlitten. Beetle brachte das Gefährt in einer Eiswolke zum Stehen, drehte es um 180 Grad und fuhr langsam zu Septimus zurück.
»Nicht übel, was?«, grinste Beetle. »Du solltest erst mal meine Dreifachkurven erleben – die sind noch besser.«
»Vielleicht ein andermal«, sagte Septimus, der sich mühsam vom Eis aufrappelte. »Danke.«
»Na schön. Wir sind sowieso da. Taxi direkt vor die Tür. Nicht schlecht, was?« Beetle deutete auf einen großen Bogen, der, wie könnte es anders sein, aus purem Eis war. Über den Bogen waren zwei verschnörkelte Buchstaben ins Eis gemeißelt: Z.T.
»Bitte. Das war’s«, sagte Beetle.
»Oh ...«, sagte Septimus und beäugte den Bogen zweifelnd. Er nahm Wie man die dunklen Kräfte unschädlich macht vom Schlitten. »Komm doch mit, Beetle.«
»Was ... ich?« Beetle klang überrascht.
»Zurück kannst du doch nicht, oder? Was willst du Foxy denn erzählen?«
»Ach, Mist! Daran hab ich noch gar nicht gedacht.« Beetle stieg vom Schlitten und band ihn an einem silbernen Ring fest, der im Eis verankert war. »Man muss sie anbinden, sonst machen sie sich selbständig«, erklärte er, als er den verwunderten Blick seines Freundes bemerkte. »Früher hatte jeder einen eigenen Schlitten, und der Schlitten des Zaubererturms soll ein ganz besonderer gewesen sein. Aber der hier ist der letzte Zauberschlitten, deshalb will ich nicht, dass er abhanden kommt.«
»Klar«, stimmte Septimus zu. »Kommst du jetzt, Beetle?«
Widerstrebend folgte ihm Beetle durch den Eisbogen. Sie gelangten zu einer Eistreppe. Auf der untersten Stufe saß ein fast durchsichtiger Geist im lila Gewand eines Außergewöhnlichen Zauberers. Er schlief fest.
Septimus blieb abrupt stehen, und Beetle rempelte ihn von hinten, so dass er in den Geist hineinschlitterte.
»Ooh ... aah ...«, stöhnte der Geist und schreckte aus dem Schlaf hoch. »Wer ist da?«
»I... ich bin’s«, stammelte Septimus. »Der Lehrling.«
»Der Lehrling? Welcher?«, fragte der Geist argwöhnisch.
»Der Außergewöhnliche Lehrling«, antwortete Septimus.
»Nein, der bist du nicht. Du bist nicht mein Lehrling.«
Septimus überlegte, wie er dem alten Zauberer auf der Treppe die Wahrheit möglichst schonend beibringen konnte. »Es tut mir leid«, sagte er mit sanfter Stimme, »aber ich muss Ihnen mitteilen, dass Sie nicht mehr der Außergewöhnliche Zauberer sind. Sie sind ein Geist. Sie sind ... nun ja, Sie sind tot.«
»Hihi. Hab ich dich drangekriegt, mein Junge. Natürlich bin ich tot. Wäre ich noch am Leben, würde ich nicht hier herumhocken und vor Langeweile vergehen. Wie war noch mal dein Name, Kleiner?«
»Septimus Heap.«
»Wirklich? Schön, schön. Du darfst rauf.«
»Und mein Freund auch?«
»Ja. Nur zu. Oben müsst ihr links abbiegen und das Losungswort sprechen. Ihr kommt im Besenschrank neben der Großen Halle heraus.«
»Vielen Dank.« Septimus lächelte.
Der alte Außergewöhnliche Zauberer sank wieder in sich zusammen und schloss die Augen. »Keine Ursache«, sagte er. »Und viel Glück, mein Sohn. Du wirst es brauchen.«